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2. Die Zaubererallee

 

Tür

Septimus trat auf die silberne Wendeltreppe in der Spitze des Turms.

»Zur Halle, bitte«, sagte er. Die Treppe setzte sich langsam in Bewegung, und während sie sich wie ein riesiger Korkenzieher nach unten drehte, hielt Septimus das Spinnenglas in die Höhe und betrachtete seine Insassen. Ihre Zahl war mittlerweile auf fünf geschrumpft, und er fragte sich, ob er das haarige Exemplar nicht schon einmal gesehen hatte.

Die haarige Spinne starrte ihn hasserfüllt an. Sie hatte ihn mit Sicherheit schon einmal gesehen. Viermal, um genau zu sein, wie die Spinne grimmig dachte. Viermal hatte er sie eingefangen, in das Glas gesperrt und draußen wieder ausgekippt. Der Lümmel konnte von Glück sagen, dass sie ihn nicht schon früher gebissen hatte. Aber diesmal war wenigstens anständige Verpflegung im Glas. Die zarten jungen Spinnen hatten trefflich gemundet, auch wenn sie die beiden eine ganze Weile im Glas hatte herumhetzen

müssen. Die Haarige machte es sich bequem und fand sich damit ab, dass sie wieder einmal unfreiwillig auf Reisen ging.

Die silberne Wendeltreppe drehte sich langsam, und während sie Septimus und seinen Fang durch den Zaubererturm nach unten beförderte, winkten ihm mehrere Gewöhnliche Zauberer freundlich zu, die in den unteren Stockwerken wohnten und soeben ihr Tagewerk begannen.

Die Aufregung war groß gewesen, als Septimus im Zaubererturm eintraf. Marcia Overstrand kehrte nicht nur im Triumph zurück, nachdem sie den Turm und die ganze Burg von einem Schwarzkünstler befreit hatte, sondern brachte obendrein auch noch einen Lehrling mit. Davor hatte sie das Amt der Außergewöhnlichen Zauberin zehn Jahre lang ohne einen Lehrling versehen, so dass man unter den Gewöhnlichen Zauberern hinter vorgehaltener Hand schon gemäkelt hatte, sie sei viel zu wählerisch. »Meine Güte, was hofft Madam Marcia denn zu finden? Den siebten Sohn eines siebten Sohns? Haha!« Aber genau das war Madam Marcia Overstrand geglückt. Sie hatte Septimus Heap gefunden, den siebten Sohn des mittel- und talentlosen Zauberers Silas Heap, der wiederum der siebte Sohn des ebenso mittellosen, aber weitaus talentierteren Gestaltwandlers Benjamin Heap war.

Die silberne Wendeltreppe kam im Erdgeschoss des Zaubererturms sachte zum Stehen. Septimus hüpfte herunter und durchquerte die große Eingangshalle, wobei er von einer Seite zur anderen sprang und versuchte, die flüchtigen Farben zu fangen, die über den weichen, sandartigen Fußboden huschten. Der Fußboden hatte ihn kommen sehen, und die Worte GUTEN MORGEN, HERR LEHRLING flimmerten vor ihm über die tanzenden Muster, als er auf die Tür aus massivem Silber zusteuerte, die den Eingang zum Turm bewachte. Septimus murmelte das Losungswort, und lautlos schwang die Tür vor ihm auf. Ein heller Sonnenstrahl fiel in die Halle und ließ die magischen Farben verblassen.

Septimus trat hinaus in den warmen Sommermorgen. Er wurde bereits erwartet.

»Marcia lässt dich heute aber früh gehen«, rief ihm Jenna Heap entgegen. Sie hockte auf der untersten Stufe der riesigen Marmortreppe, die in den Zaubererturm führte, und ließ unbekümmert die Füße gegen den warmen Stein baumeln. Sie trug ein einfaches rotes Kleid mit goldener Borte, dazu eine goldene Schärpe um die Hüfte und feste Sandalen an den schmutzigen Füßen. Ihr langes dunkles Haar bändigte ein schmales goldenes Diadem, das wie eine Krone auf ihrem Kopf saß. Ihre dunklen Augen blitzten schelmisch, als sie ihren Adoptivbruder anschaute. Er sah so unordentlich aus wie eh und je. Sein gelocktes strohblondes Haar war ungekämmt und seine grüne Lehrlingstracht voller Staub aus der Bibliothek, doch der goldene Drachenring an seinem rechten Zeigefinger funkelte so hell wie immer.

Jenna freute sich, ihn zu sehen.

»Hallo, Jenna«, grüßte Septimus lächelnd und blinzelte mit seinen leuchtend grünen Augen in die Sonne. Er winkte ihr mit dem Spinnenglas zu.

Jenna fuhr von der Stufe in die Höhe und starrte auf das Glas. »Dass du die Spinnen ja nicht in meiner Nähe freilässt!«, warnte sie ihn.

Septimus hopste die Treppe hinunter und schlenkerte im Vorbeigehen mit dem Glas vor ihrem Gesicht herum. Er lief zu dem Brunnen am Rand des Hofes und schüttelte die Spinnen vorsichtig aus dem Glas. Sie fielen alle in den Eimer. Die Haarige stärkte sich noch rasch mit einem Imbiss und krabbelte dann an dem Seil entlang wieder nach oben. Die drei verbliebenen Spinnen blickten ihr hinterher und beschlossen, vorerst im Eimer zu bleiben.

»Manchmal«, sagte Septimus, als er wieder bei Jenna an der Treppe war, »habe ich den Verdacht, dass die Spinnen postwendend in die Bibliothek zurückkehren. Heute habe ich sogar eine wiedererkannt.«

»Red keinen Quatsch, Sep. Wie willst du denn eine Spinne wiedererkennen?«

»Nun ja«, erwiderte er, »ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mich erkannt hat. Darum hat sie mich auch gebissen, glaube ich.«

»Sie hat dich gebissen? Ist ja schrecklich! Wo denn?«

»In der Bibliothek.«

»Nein, wo sie dich gebissen hat.«

»Ach so. Hier.« Er hielt ihr den Daumen hin.

»Ich kann nichts sehen«, mäkelte sie.

»Weil Marcia Gift drauf getan hat.«

»Gift?«

»Tja, bei uns Zauberern macht man das so«, sagte Septimus mit wichtiger Miene.

»Ach, ihr Zauberer«, lachte Jenna spöttisch, stand auf und zupfte ihn am Ärmel seiner grünen Kutte. »Ihr Zauberer seid alle verrückt. Und da wir gerade von Verrückten reden, wie geht es Marcia?«

Septimus stieß mit dem Fuß einen Kieselstein zu Jenna hinüber.

»Sie ist nicht verrückt«, sagte er verteidigend. »Aber der Schatten folgt ihr auf Schritt und Tritt. Und es wird immer schlimmer. Selbst ich kann ihn inzwischen sehen.«

»Iiih, ist ja gruselig.« Jenna kickte den Stein zu ihm zurück, und Steinfußball spielend liefen sie über den Hof zu dem hohen silbernen Torbogen, der innen mit tiefblauem Lapislazuli ausgekleidet war. Er hieß Großer Bogen und verband den Hof des Zaubererturms mit der breiten Zaubererallee, die in schnurgerader Linie zum Palast führte.

Septimus verscheuchte alle Gedanken an Schatten, rannte vor Jenna unter den Großen Bogen, drehte sich um und rief: »Auf jeden Fall hat mir Marcia heute freigegeben.«

»Den ganzen Tag?«, fragte Jenna erstaunt.

»Den ganzen Tag. Bis Mitternacht. Ich kann dich also nach Hause begleiten und Mum besuchen.«

»Und mich. Du musst den heutigen Tag auch mit mir verbringen. Ich habe dich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Und morgen fahre ich zu Tante Zelda, um das Drachenboot zu besuchen. In ein paar Tagen ist Mittsommer, falls du es vergessen hast.«

»Wie könnte ich. Marcia redet ja ständig davon, wie wichtig das ist. Hier, ich hab ein Geschenk für dich.« Septimus fischte den Schokoladen-Charm aus der Tasche und reichte ihn Jenna.

»Oh, das ist lieb von dir, Sep. Äh, und was ist das genau?«

»Ein Geschmacks-Charm. Damit kannst du alles, was du willst, in Schokolade verwandeln. Ich hab mir gedacht, das könnte bei Tante Zelda ganz nützlich sein.«

»He, damit könnte ich ja ihre Kohl- und Sardineneintöpfe in Schokolade verwandeln.«

»Kohl- und Sardineneintopf ...«, seufzte Septimus, dem das Wasser im Mund zusammenlief. »Du ahnst ja nicht, wie sehr ich Tante Zeldas Kochkünste vermisse.«

»Da bist du aber der Einzige«, lachte Jenna.

»Ich weiß, deshalb hab ich mir gedacht, dass dir der Charm bestimmt gefällt. Am liebsten würde ich dich begleiten und Tante Zelda besuchen.«

»Das geht nicht, denn ich bin die Königin.«

»Seit wann das denn?«

»Zumindest werde ich Königin. Du bist nur ein kleiner Lehrling.« Jenna streckte ihm die Zunge heraus und rannte, von Septimus verfolgt, aus dem Schatten des Großen Bogens hinaus in die Hitze der Zaubererallee.

Die Allee lag hell und wie ausgestorben vor ihnen in der Sonne. Sie war bis hinüber zum Palasttor, das in der Ferne golden glänzte, mit großen weißen Kalksteinplatten ausgelegt und von hohen silbernen Pfählen gesäumt, an denen Fackeln steckten, die sie bei Dunkelheit beleuchteten. Heute Morgen steckten dort jedoch nur verkohlte, die in der Nacht abgebrannt waren und von Maizie Smalls, dem Fackelanzünder, am Abend durch frische ersetzt werden würden. Septimus sah gerne zu, wenn Maizie die Fackeln anzündete. Von seinem Turmzimmer aus hatte er einen guten Blick auf die Allee, und Marcia ertappte ihn oft dabei, wie er abends zur Anzündzeit, wenn er eigentlich seine Zaubersprüche büffeln sollte, verträumt aus dem Fenster schaute.

Jenna und Septimus traten aus der heißen Sonne in den kühleren Schatten der niedrigen Häuser, die sich, etwas zurückgesetzt, entlang der Allee reihten. Diese Häuser zählten zu den ältesten der Burg und bestanden aus hellen verwitterten Steinen, an denen im Lauf der Jahrtausende Regen, Hagel und Frost und gelegentlich auch kriegerische Gefechte ihre Spuren hinterlassen hatten. Hier waren die zahlreichen Schreibstuben und Druckereien untergebracht, in denen all die Bücher, Schriften, Traktate und Abhandlungen entstanden, die von den Bewohnern der Burg gelesen wurden.

Beetle, der als Prüfgehilfe und Mädchen für alles in Nummer dreizehn arbeitete, hockte faul in der Sonne und nickte Septimus freundlich zu. Haus Nummer dreizehn hob sich von all den anderen Geschäften und Kontoren ab. Es war das einzige, hinter dessen Fenstern so hoch Papier gestapelt war, dass man nicht hineinsehen konnte, und obendrein war es unlängst lila gestrichen worden, was beim Verein zur Erhaltung der Zaubererallee helle Empörung ausgelöst hatte. Nummer dreizehn beherbergte das Magische Manuskriptorium und die Zauberprüfstelle, deren Dienste Marcia und die meisten Zauberer regelmäßig in Anspruch nahmen.

Jenna und Septimus hatten fast das Ende der Zaubererallee erreicht, als sie hinter sich Hufgetrappel vernahmen, das auf der leeren Straße widerhallte. Sie drehten sich um und erblickten in einiger Entfernung einen schwarzen, staubbedeckten Reiter, der auf einem großen schwarzen Pferd zum Manuskriptorium galoppierte. Dort angekommen, sprang er vom Pferd, band es an und stürmte ins Haus, dicht gefolgt von Beetle, der über Kundschaft so früh am Morgen sichtlich überrascht war.

»Wer das wohl sein mag?«, sagte Septimus. »Den habe ich hier noch nie gesehen. Du?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Jenna nachdenklich. »Irgendwie kommt er mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, woher.«

Septimus antwortete nicht. Von dem Spinnenbiss war plötzlich ein stechender Schmerz in seinen Arm gefahren, und aus irgendeinem Grund musste er an den Schatten denken, den er am Morgen gesehen hatte. Er erschauderte.

Septimus Heap 02 - Flyte
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